Vorsichtig bewegt sich Praiala an den Wänden entlang. Sie sind schmutzig von Staub und Ruß. Der Dreck klebt so fest auf dem Verputz, dass er nicht abfärbt, als hätte er sich über Jahrhunderte angesammelt.
Zwei Wände des Zimmers sind, dem Klang nach zu urteilen, aus Holz, vermutlich Innenwände. Sie weisen jedoch keinerlei Ritzen, Fugen oder Löcher auf. Die anderen beiden Wände sind aus Stein. Große, wohl behauene Steinblöcke mit einer dünnen Schicht aus Mörtel zu einer dicken Mauer zusammengefügt.
In einer der Außenwände befindet sich eine kleine Fensteröffnung, die mit bräunlichen zugezogenen Vorhängen verhängt ist. Durch einen Spalt erkennt Praiala den grauen Himmel.
Ihr Magen knurrt und ein saurer Geschmack breitet sich in ihrem Mund aus. Sie blickt hinüber zum Bett auf das Zhandukan den Teller gestellt hat.
Das Besteck ist entweder aus Knochen gefertigt oder aus Holz. Praiala weiß es nicht, und sie will es auch nicht anfassen. Der Holzteller steht wacklig am Fuß des Bettes und ist halb gefüllt mit Fleischeintopf und Wurzelgemüse. Sie steht davor, sieht das Essen an und zögert. Ihre Hände wollen danach greifen, aber dann hält sie inne, obwohl der Geruch sie lockt. Ihr Magen knurrt und zieht sich erwartungsfroh zusammen, ihr wird schwindelig. Wann hat sie das letzte Mal etwas gegessen? Sie weiß es nicht, weil sie keine Ahnung hat, wie lange sie sich schon hier in diesem Zimmer befindet, in diesem Bett, in dem sie sich vollgepinkelt hat.
Das Essen ist lauwarm, es ist abgekühlt, während Zhandukan geredet hat. Immerhin ist es weichgekocht. Praiala kniet sich davor hin und senkt den Kopf.
Als sie die bittere salzige Sauce bis zum letzten Rest vertilgt und sogar vom Rand des Tellers abgeleckt hat, hört sie ein anschwellendes Stimmengewirr und lautstarkes Hin- und Herlaufen aus dem Stockwerk unter ihr.
Aufgeregte Stimmen. Schreiende und kreischende Stimmen, die den Gesang von zwergischer Metall-Musik imitieren. Grollend und gurgelnd, bevor sie in schrille Falsetttöne ausbrechen. Sie fragt sich, ob sie wohl auf diese Art miteinander kommunizieren oder sich einfach nur gegenseitig übertreffen wollen, wie Kinder es tun. Zhandukan ist der Lauteste. Praiala bezweifelt, dass der Junge überhaupt in der Lage ist, längere Zeit zu schweigen. Seine dümmlichen Ausrufe werden untermalt von Baars dröhnendem Bariton. Vielleicht imitiert das Mädchen ja dieses schakalartige Bellen und wetteifert mit Zhandukan darin. Es kann ja wohl kaum die alte Frau sein, die ihre Stimme derart entstellt. Und warum tragen sie ihre Schuhe im Haus, fragt sie sich, um sich gleich darauf idiotisch vorzukommen angesichts der Abwegigkeit dieser Frage. Aber das ständige hohle Stampfen ihrer Füße auf dem Holzboden kann einen schon verrückt machen, es ist höllisch laut. Sie zuckt zusammen, ihre Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt. Es schüchtert sie ein, und sie hat Angst, sie könnten lärmend die Treppe hinauftrampeln und erneut in ihr Zimmer eindringen.
Auch mit den Möbeln gehen sie nicht gerade zimperlich um. Holzstühle, jedenfalls nimmt sie an, dass es Stühle sind, werden ständig laut auf dem Fußboden herumgeschoben. Es klingt, als würden sämtliche Möbel im Erdgeschoss umgeräumt oder umgeworfen, als würden dort unten Sachen zerschlagen. Sie fragt sich, wer wohl diese alte Frau ist. Ist sie mit einem aus dieser Gruppe namens "Baal Argrimm" verwandt? Sie wüsste gerne, warum sie den jungen Leuten erlaubt, sich so wild aufzuführen.
Auf einmal ärgert sie sich darüber, dass sie nicht gefragt hat, warum sie hier festgehalten wird und wer die alte Frau ist. Sie hätte auch noch eine Menge anderer Fragen stellen können, die sie unbedingt beantwortet haben will. Ihr wird eiskalt. Sind diese Jugendlichen etwa die Mörder ihrer Gefährten? Sind sie hinter ihnen her gewesen, haben sie sie gejagt? Sie zur Strecke gebracht. Diese drei, die Khoramsbestie, der Dämon und das Feuer?
Nein, das passt nicht zusammen.
Praiala hat ihren Verfolger, ihren Mörder, nicht gesehen, aber was sie erahnt und gespürt hat, ist viel zu flink und zu lautlos für ein menschliches Wesen gewesen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass diese geschminkten Jugendlichen in der Lage wären, eine derart bestialische Durchtriebenheit an den Tag zu legen. Außerdem geht von ihnen nicht diese unnatürliche Präsenz aus, die sie sogar bis in ihre Träume verfolgt hat. Dieses Ding. Praiala schlägt die Hände vors Gesicht und schnappt nach Luft, als sie eine erneute Panikattacke erfasst.
Das Krachen und Kreischen der Jugendlichen dröhnt, als sie nach draußen gehen. Auf dem Gras ist das Getöse nicht mehr so laut zu hören. Nur dieses idiotische Geschrei will einfach nicht aufhören.
Praiala geht durch das Zimmer zu dem kleinen Fenster. Als sie den Vorhang behutsam öffnet bemerkt sie schwarze Nägel oder Metallstifte, die in der Fensteröffnung neben dem Fenster aus der Wand herausragen. An der Wand über dem Bett sind rechteckige helle Flecken zu sehen. Dort haben Bilder oder Ähnliches gehangen, und jemand hat die Sachen abgenommen. Das ist kein gutes Zeichen, denkt sie, auch wenn sie nicht erklären kann warum. Sie schiebt den ausgeblichenen zerfledderten Vorhang gänzlich zur Seite und sieht aus dem Fenster.
Draußen wird es dunkel, aber der Himmel ist noch hell. Sie schätzt, dass es ungefähr vier Uhr Nachmittag sein muss. Sie befindet sich zwei oder sogar mehr Stockwerke über dem Erdboden. In einem Turm? Ein orangefarbener Glanz fällt aus einer offen stehenden Tür oder einem Fenster irgendwo unter ihr.
Von ihrem kleinen Fenster aus kann sie beobachten, wie die Jugendlichen dort draußen einen Scheiterhaufen anzünden.
Schwärzliche Holzbalken sind ungefähr sieben Meter vom Turm entfernt auf einer Grasfläche, die sich bis zum Waldrand erstreckt, aufrecht gegeneinander gestellt worden. Dazwischen und darum herum liegen übereinandergeschichtete Äste und gebündelte Zweige. Ein roter Tonkrug mit Brandöl ist ebenfalls im dunkelgrünen Gras zu sehen, das schon lange nicht mehr geschnitten worden ist. Rund um den Scheiterhaufen sind die langen Halme plattgetreten.
Auf der Wiese wachsen einige wenige Obstbäume. Gegenüber des Gebäudes in dem sich Praiala befindet, steht eine kleinere Hütte. Es sieht aus wie ein umgebautes Kinderspielhaus oder eine Gartenhütte mit einer einzelnen Tür und einer kleinen Veranda. Dieses seltsame Miniaturhaus jagt ihr Angst ein. Es erinnert sie an das verlassene Haus, das sie im Wald gesehen hat. Diese Hütte ist sehr alt. Genauso wie dieses Zimmer und das ganze Gebäude. Alles um sie herum ist uralt und vernachlässigt. Die Gerüche, die in der Luft hängen, kommen ihr sehr fremd vor. In diesem Turm riecht es genau wie in der Brache. So wie mitten in diesem dunklen, von Feuchtigkeit triefenden Urwald, der sich jenseits des grasbewachsenen Grundstücks schwarz und mächtig und undurchdringlich ausdehnt.
Plötzlich wird sie von Panik ergriffen, als ihr der Gedanke kommt, dass der Scheiterhaufen dort draußen womöglich für sie gedacht ist. Und dass diese jungen Leute vorhaben, sie dort zu verbrennen.
Sie zwingt sich dazu, diese schreckliche Vorstellung aus ihrem Gehirn zu verbannen, und kämpft den Panikanfall nieder, der sie zu erfassen droht. Die sind doch einfach bloß jung und betrunken. Immerhin haben sie sie gerettet. Sie nehmen einfach nichts ernst, nicht einmal die Gefahr der Dämonenbrache.
Sie suchen das Besondere, das Aufregende. Das ist alles. Bestimmt ist längst jemand losgegangen, um einen Heiler zu holen.
Aber warum haben sie die Tür abgeschlossen? Praiala dreht langsam den Kopf und sieht zur Tür. Damit sie … geschützt ist. Aber wovor?
Praiala schleicht, so schnell sie sich traut, durch das Zimmer zur Tür und spürt dabei den schmutzverkrusteten Holzboden unter den nackten Füßen. Angenommen, dieser Schmerz in ihrem Schädel gehe irgendwann zurück und sie könne sich wieder besser bewegen, wäre es dann möglich, sich aus eigener Kraft und ganz leise aus diesem Gefängnis zu befreien? Das kleine Fenster ist zu eng, um hindurchzuklettern, also bleibt ihr nur die Tür als Ausweg.
Sie dreht an dem schwarzen Türknauf. Abgeschlossen. Das hatte sie sich schon gedacht, aber vielleicht kann man das Schloss irgendwie knacken. Das Gebäude ist alt, die Tür schmal, sie sieht ziemlich morsch aus. Als sie am Knauf ruckt und ihre nackte Schulter gegen das Holz drückt, stellt sie fest, dass die Tür stabiler und schwerer ist, als sie aussieht. Außerdem ist sie verzogen und hängt verkeilt im Rahmen. Man kann sie nur minimal bewegen. Ihre eben aufgekeimte Hoffnung auf einen einfachen Fluchtweg erlischt schlagartig.
Sie beugt sich vor und wartet, bis die heftigen Schmerzwellen in ihrem Schädel abebben. Dann geht sie wieder zum Fenster zurück.
Dort unten auf der Wiese haben Zhandukan und Baar ihre Roben ausgezogen und setzen ihre nackten Oberkörper der klirrend kalten Abendluft aus. Abgesehen von den Tätowierungen sind sie blass wie Maden, ihre Brustkörbe glatt, die Oberarme lang und dünn und ebenfalls mit schwarzen schnörkeligen Tätowierungen verziert. Ihre langen schwarzen, filzigen Haare hängen rechts und links von ihren jugendlichen weißen Gesichtern wie Tücher herab. Ihr ist bis jetzt noch gar nicht aufgefallen, wie lang Baars Haare sind. Sie reichen ihm wie ein Vorhang bis zu den Hüften. Seine Oberschenkel sind spindeldürr. Um den Oberkörper hat er einen Ledergurt gelegt, der seinen Brustkorb kreuzt. Er ist aus schwarzem Leder gefertigt und genietet. An den Unterarmen tragen beide jungen Männer vom Handgelenk bis zum Ellbogen Lederbänder, die mit langen silbernen Nägeln beschlagen sind.
Ihre Gesichter sind zu eigenartigen Grimassen verzerrt. Sie schauen mit weit aufgerissenen Augen zum dunkler werdenden Himmel auf und geben idiotische Schreie von sich, während sie die Arme ausbreiten. Praiala kann das Mädchen nirgends sehen.
Mit einem Mal bricht donnerndes Trommeln hervor. Der Ursprung der Musik befindet sich außerhalb ihres Blickwinkels, irgendwo unter ihr.
Ungeschickt leert Zhandukan den Tonkrug mit Brandöl aus. Silbrig spritzend ergießt sich die Flüssigkeit über das Holz. Baar holt einen Feuerstein aus der Hosentasche.
Es dauert eine Weile, bis sie den Scheiterhaufen zum Brennen gebracht haben. Viermal geht er aus, und sie müssen ihn erneut anzünden, obwohl der Dämon wild tanzt und Zhandukan aufgeregte Schreie von sich gibt, um die Flammen zu beschwören. Sie sind offensichtlich ziemlich betrunken.
Sie schaut sich weiter an, wie die jungen Leute umhertanzen. Die beiden Männer trinken aus großen Trinkhörnern selbst gebrannten Schnaps. Das Licht und die Hitze des Feuers dringen bis zu ihrem Fenster herauf, und sie muss ein Stück zurücktreten.
Auf einmal fühlt sie sich müde und erschöpft, schwach und schwindelig. Ihr ist übel. Dies ist wirklich nicht der Moment, um an Flucht zu denken.
Sie geht zurück zum Bett, legt sich auf die Decke und kümmert sich nicht weiter um die vom Urin feuchten Schaffelle und das verunreinigte Heu darunter. Sie schließt die Augen und zittert. Sie fragt sich, was hier eigentlich mit ihr passiert. Klar zu denken fällt ihr schwer. Die heiser brüllenden Stimmen und das irrwitzig schnelle Getrommel unter ihrem Fenster hämmern in ihrem Kopf, bringen ihre Gedanken und sogar ihre Atmung durcheinander. Sie will nur noch Ruhe haben und in die Dunkelheit bewusstlosen Schlafs sinken.
Ihre Situation ist völlig absurd. Aber sich ihr kampflos zu ergeben, wäre zu einfach. Sie befindet sich noch immer im Schockzustand. Vielleicht wegen der schrecklichen Dinge, die Ron und Quin dort draußen im Wald zugestoßen sind. In der Dämonenbrache, dem Wald, den sie durch ihr Fenster sehen kann.
Sie ist keineswegs in Sicherheit, sondern noch immer in Reichweite dieses Dings, was immer es auch ist, das dort draußen lauert. Sie hat noch nicht genug Zeit gehabt, ihre Lage vernünftig einzuschätzen, denn sie ist ununterbrochen um ihr Leben gerannt. Tagelang, nur um festzustellen, dass sie von einem Wahnsinn in den nächsten geraten ist. Und wer weiß, was diese beiden grauenhaften Situationen miteinander zu tun haben.
Wenn doch nur dieser Lärm, den die drei veranstalten, endlich aufhören würde. Sie will ihre Ruhe haben. Außerdem breitet der Lärm sich meilenweit in der Umgebung aus und lockt womöglich etwas Grauenhaftes an.
Aber die Musik dröhnt weiter, und die besoffenen Jugendlichen brüllen immer noch in den Himmel. Sie scheinen überhaupt nicht müde zu werden. Sie fragt sich, ob sie die ganze Nacht wach bleiben wollen.
Das Ding. Wissen sie davon? Hat Zhandukan sie nicht ausgehorcht? Heimlich, weil er nicht will, dass Baar etwas davon mitbekommt? Baar ist der Anführer. Er scheint intelligenter zu sein als die beiden anderen, vielleicht ist er ja sogar zu Mitgefühl fähig, auch wenn er sich im Augenblick völlig idiotisch benimmt. Zhandukan ist ein Dummkopf, ein großspuriger Heranwachsender. Irgendwie sind sie enervierend unreif, alle beide. Als wären sie nicht ganz dicht. Womöglich in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Im Gegensatz zu dem, was sie dort draußen im Wald angetroffen hat, ist ihre Angst vor ihnen nicht körperlicher Natur. Sie denkt über diese Empfindung nach. Ja, sie ist eher misstrauisch, was ihre Absichten betrifft, die Gründe, aus denen sie sie in diesem Zimmer eingeschlossen haben, als dass sie sich vor dem fürchtet, was sie ihr antun könnten. Sie vermutet, dass sie disziplin- und verantwortungslos, aber harmlos sind. Die alte Frau wiederum ist reif genug, um so etwas wie Verantwortung zu kennen. Sie hat sie gefüttert, ihren Verband wieder angelegt und ihr über die Wange gestrichen. Sie erinnert sich an das Gefühl und erschauert. Wenn ein Großmütterchen dabei ist, kann eigentlich nichts Schlimmes passieren. Sie muss sich einfach nur entspannen und abwarten. Die Masken haben sie in Panik versetzt, das ist alles. Aber andererseits scheinen sie sich überhaupt nicht um ihr Wohlergehen zu sorgen. Sie haben sich nicht um ihre Kopfverletzung gekümmert. Stattdessen feiern sie eine beschissene Party. Haben sie wirklich jemanden losgeschickt, um Hilfe zu holen? So langsam fühlt sie sich wie das Opfer eines sehr ausgeklügelten Streichs. Sie spielen mit ihr. Sie beschäftigen sich mit Dingen, die ihr völlig abseitig erscheinen. Ihre Situation ist wirklich lächerlich.
Aber was soll sie tun. Was kann sie tun?
Leise betet sie zu Praios und Peraine um einen
. Eine heilende Wärme breitet sich in ihrem Körper aus. Es fühlt sich an als würden die Strahlen der warmen Sommersonne des Praiosmondes ihre kalten Glieder erwärmen.
Vor dem Turm dröhnt es ununterbrochen weiter. Der Mahlstrom des Lärms will nicht aufhören, bis ihre Erschöpfung und ihre Verwundungen dafür sorgen, dass sie dennoch in tiefen Schlaf fällt.