In der Dämonenbrache, Garetien, Mittelreich
"Da komm ich nie rüber." Unter den Schmutzschlieren in Quins Gesicht ist die knallrote Haut zu erkennen. Er lehnt mit der Schulter gegen einen Baum, nachdem er seine behelfsmäßige Krücke in den Boden gerammt hat, um sich darauf abzustützen. Die Krücke ist ein abgebrochener Ast, der genau die richtige Länge hat und dick genug ist, um ihn tragen zu können. Er hat sogar eine Gabelung, die er sich unter die Achsel schieben kann.
Praiala setzt sich auf einen breiten Stein am Rand der Schlucht, wirft den Rucksack auf die eine Seite und stellt die Sturmlaterne ab. Quin wirkt erschöpft und enttäuscht. Sein Atem dringt pfeifend durch den geöffneten Mund.
"Wann können wir denn endlich eine Pause machen?", sagt er mehr zu sich selbst.
Nachdem sie dicht hintereinander durch enges Gestrüpp gewandert und schließlich auf steinigen Grund gekommen sind, der sie eine Erhebung hinaufführte, sind sie aus den Bäumen herausgetreten und blicken nun auf ein Tal, das von steilen Hängen begrenzt wird. Und Praiala spürt wieder diese vertraute Angst. Ein Gefühl vollkommener Ohnmacht bemächtigt sich ihrer Gedanken, und nun kommt es ihr so vor, als gäbe es kein entrinnen, keinen Ausweg aus der verfluchten Dämonenbrache.
Vor ihnen liegt ein von großen Felsbrocken übersäter Abhang, der in eine Art Schlucht führt. Die sichtbaren Seiten der Felsen sind mit gelblich-grünen Flechten überwuchert. Am Fuß der Schlucht breitet sich ein Wald aus schlanken hohen Büschen aus, deren gummiartige, wie Schirme wirkende Blätter die dreißig Schritt bis zur anderen Seite ausfüllen, wo man über eine Geröllhalde wieder nach oben steigen muss, um die feuchte, von Kiefern und Farnen bedeckte Ebene gegenüber zu erreichen. Sumpfgebiet. Praiala blickt zu dem dämmrigen Streifen am Horizont.
Das diffuse Licht der nahenden Dämmerung fällt in die Schlucht. So viel Licht haben sie nicht mehr gesehen, seit sie gestern die Dämonenbrache betreten haben. Durch das schwache Licht hindurch fällt der Regen auch weiterhin stetig, die Luft ist kühl und frisch. So wie er jetzt auf die Felsbrocken prasselt, gerade und mit wachsender Intensität und Lautstärke, ist klar, dass er bald noch heftiger werden wird. Praiala kann das deutlich spüren.
Ihre Angst, die sich zweifellos zu einer Gruppenhysterie steigern würde, wenn sie zulassen würden, dass sie von ihren Gedanken Besitz ergreift, hat sie dazu gebracht, Ron unter dem Baum hinter sich zu lassen. Praiala war die Äste hinauf gestiegen und hat die Leiche herunter geholt, ihn zwischen die Wurzeln des Baumes gelegt und ihn mit Laub und Erde bedeckt. Sie hat sogar einen
gesprochen.
Mit gesenkten Köpfen sind sie dann langsam aber gleichmäßig vorangeschritten, immer weiter ostwärts, bis sie die Schlucht erreichten, die sie in ihrem körperlichen Zustand keinesfalls bewältigen können. Die tiefe Erdspalte erstreckt sich in beide Richtungen und verliert sich irgendwo zwischen den vom Nebel umwaberten Bäumen.
Dass Ron nicht mehr am Leben ist, hat Quin bislang noch gar nicht richtig realisiert. In seiner totalen Erschöpfung ist er dazu überhaupt nicht in der Lage. Praiala ist diese Abgestumpftheit ganz recht, seine Emotionen sind wie betäubt von dem, was er nicht nachvollziehen kann. Aber hin und wieder dringt die brutale Wahrheit in sein Bewusstsein, und dann schluchzt er auf oder stösst etwas wie
"O Gott, bitte nicht!" hervor. Für ihn ist die ganze Situation völlig unvorstellbar.
"Der Tag bricht an", sagt Praiala in der Hoffnung, anschließend wieder klarer denken zu können. Der Wassermangel lässt ihre Gedanken immer vager und unzusammenhängender werden. Sie kommen und gehen, schwimmen ziellos in ihrem Kopf herum. Ihre Lunge arbeitetet kraftlos, ihre Aussprache ist undeutlich. Sie ist viel zu müde, um mehr als ein paar knappe Worte an ihren Kameraden richten zu können.
"Wir haben uns eine Pause verdient. Vergiss letzte Nacht für einen Moment. Wir sind ziemlich gut vorangekommen. Du hast dich gut gehalten, Quin."
Es ist das erste Mal seit einer Stunde, dass sie etwas sagt. Sie ist viel zu müde, um Quin irgendwelche monotonen Ermunterungen oder Hinweise zukommen zu lassen. Sie trägt ihren eigenen Rucksack auf dem Rücken und dazu noch Quins Gepäck vor die Brust geschnallt. Das anstrengende Klettern über das felsige Gelände hat sie an die Grenze des Erträglichen geführt, und jetzt ist es gerade mal Morgengrauen. Die Riemen der beiden Rucksäcke graben sich in ihr Fleisch und verursachen üble Schmerzen, die sie auch nicht loswurde, als sie ihren Sitz etwas veränderte. Sie biss einfach die Zähne zusammen und stolperte weiter, bis sich ihr Blick vor Anstrengung verzerrte. Trotzdem musste sie alle paar Minuten anhalten, wenn Quin nach ihr rief und verlangte, sie solle langsamer gehen oder auf ihn warten, weil er Angst hatte, sie könne sich zu weit von ihm entfernen. In ihrem Hals pochte es schmerzhaft, nachdem sie Quins Rucksack zur Seite schob, um besser sehen zu können, wo sie ihre Füße hinsetzte. Wenn auch noch sie sich den Knöchel verstauchen würde, könnten sie sich gleich ausziehen und auf das Ende warten.
Es beunruhigt sie, dass sie sich nicht frei bewegen kann, vor allem mit den Armen. Wenn sie angegriffen werden würden, könnten wertvolle Sekunden vergehen, in denen sie sich mit den Riemen und den Rucksäcken abquälen muss. Und ihr Gegner ist zweifellos viel schneller. Schnell und leise ist dieses Ding, es sei denn, es entschied sich dazu, sie aus der Ferne zu verhöhnen.
Es hätte sich jeden von ihnen während der letzten zwei Stunden schnappen können, Praiala weiß das ganz genau. Irgendwann sind sie einfach zu müde geworden, um weiterhin wachsam zu bleiben, während sie durch irgendwelches Gestrüpp stapften oder taumelten. Vielleicht tötet dieses Ding ja nur, wenn es hungrig ist. Der Gedanke daran bereitet Praiala nichts als Übelkeit.
Aber wenn sie nicht Quins Rucksack übernommen hätte, würde er mit seinem einen gesunden Bein noch langsamer gehen. Sein schlimmes Knie ist arg angeschwollen und völlig farblos. Um die Kniescheibe herum sind keine Konturen mehr auszumachen. Die Haut unter dem Verband ist straff gespannt und heiß, wenn man sie berührt. Die Stelle überhaupt nur anzusehen macht Praiala schon völlig fertig. Schon bei der kleinsten Steigung muss Quin seitlich hinaufgehen und seine Krücke benutzen, um sich hochzustemmen, während er sein krankes Bein hinter sich herzieht, damit es nicht das geringste Gewicht tragen muss. Das Bein muss dringend hochgelegt werden und ruhen, mindestens drei oder vier Tage lang, bevor er es wieder belasten kann. Je mehr er hier herumtaumelt, umso schlimmer wird es. Seit der Beerdigung von Rons Leichnahm ist Quins Gesicht eine einzige Maske des Schmerzes und der Anspannung. Und in seinen Augen kann man sehen, wie sehr ihn die Angst quält, er könne ausrutschen oder stolpern und hinfallen und noch mehr Schmerzen erleiden.
Am oberen Rand der Schlucht lässt Quin sich ebenfalls auf einen Stein fallen und setzt seine Füße auf das feuchte Moos, das zwischen den Felsbrocken wächst. Laut keuchend hockt er neben Praiala und starrt auf seine Füße, ohne sie wahrzunehmen. Er hat die Jacke geöffnet und die Kapuzen abgezogen. Sein rotes Gesicht ist mit einem schmierigen Schmutzfilm überzogen und glänzt vor Schweiß.
Die Verantwortung drückt auf Praiala. Sie spürt geradezu körperlich, wie sie auf ihr lastet. Sie hat noch nie in ihrem Leben einen derartigen Gewaltmarsch angeführt, früher hatte sie sich ja immer während der Wanderungen auf die Kenntnis ihrer in der Wildnis erfahreneren Gefährten verlassen. Tief in ihrer Magengrube brodelt der Zorn und erweckt sie wieder zum Leben. Was hatten sich diese beiden Spinner eigentlich dabei gedacht, als sie sich entschieden in die Dämonenbrache zu gehen um Schätze zu suchen? Die ganze Idee hätte einen zelotischeren Praioten bereits
'Frevler!' schreien lassen. Selbst wenn sie auf ihrer verzweifelten Suche fündig geworden wären.
Praiala nimmt einen Schluck Regenwasser den sie mit ihrer Kapuze aufgefangen hat. Es schmeckt nach geteertem Leder und dem fauligen Wald, der sich um sie herum erstreckt: Nach widerlichem feuchten Holz, vergammelten Blättern und kalter modriger Luft. Es ekelt sie an. Aber sogar sie beide selbst riechen mittlerweile so. Sie sind fast schon ein Teil davon geworden. Nur die wenigen hellen Farbtupfer auf ihren von Menschenhand angefertigten Stoffen, die sie am Leib tragen, weisen sie noch als Andersartige aus, inmitten von diesem gedankenlosen, unbarmherzigen unnatürlichen Verfall, durch den sie sich bewegen. Es wäre so einfach, sich zu Boden fallen zu lassen und sich den Kräften der Zerstörung zu überlassen, sich auffressen zu lassen oder einfach zu verrotten. Die grausige Endlosigkeit, die Hoffnungslosigkeit dieses Landes und ihre vollkommene Bedeutungslosigkeit darin lassen sie beinahe den Verstand verlieren.
Sie holt den Südweiser heraus und legt ihn auf ihren Oberschenkel, bevor Quin den Anfall von Panik von ihrem Gesicht ablesen kann, denn dort zeigt er sich genauso deutlich wie an ihren zittrigen Händen. Sie beobachtet die Nadel wie sie hin und her schwingt und sich dann langsam einpendelt. Vor lauter Erschöpfung und Müdigkeit ist sie zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Sie fühlt sich antriebslos und nahezu apathisch. Sie ist kaum mehr fähig, sich zu konzentrieren. Woran liegt das? Unterkühlung. Kaum möglich. Ihre Sachen sind feucht und ihr wurde kalt, wenn sie anhielt, aber sie war nicht durchnässt bis auf die Haut und zitterte nicht die ganze Zeit vor Kälte. Noch nicht.
"Gehen wir noch richtig?" Quin schiebt sich seitwärts auf einen neben ihr liegenden Steinbrocken.
Wie bei den Göttern sollte sie das wissen? Sie wusste ja noch nicht einmal, wie viel der Wegstrecke sie in der Nacht bewältigt haben. Ihr kommt es vor, als wären sie meilenweit durch eine Wildnis gewandert, deren raue Formen ihr ein Vorankommen nur vorgaukelten. Vor Jahren hatte sie sich einmal verirrt, als sie auf der Zyklopen-Insel Tenos vom Strand zurückgelaufen war. Die Insel war gerade einmal sieben Meilen lang und drei Meilen breit gewesen, aber irgendwie war sie im Kreis gelaufen. Als sie wieder an dem Punkt ankam, an dem sie zwei Stunden zuvor losgegangen war, war sie völlig verkratzt gewesen. Dabei hatte sie sich eingebildet geradeaus in östlicher Richtung zu marschieren. Immerhin hat sie jetzt einen Südweiser dabei, aber der scheint ihr irgendwie auch nicht dabei zu helfen, aus dem Wald herauszufinden. Wo genau sie sich jetzt befinden oder wie weit sie vorangekommen sind, lässt sich kaum sagen. Jedenfalls nicht so weit, wie es den Anschein hatte. Immerhin hat sie genug Erfahrung, um das zu wissen.
"Das Problem ist", sagt Praiala und vermeidet es dabei, Quin in die Augen zu sehen,
"dass wir nicht wissen, wie viel Wegstrecke wir überhaupt zurückgelegt haben in den Stunden, seit wir in den Wald eingedrungen sind."
Quin seufzt und schüttelt den Kopf. Es wirkt irgendwie anklagend, und Praiala fühlt sich auf einmal in der Defensive.
"Aber immerhin gehen wir in die richtige Richtung."
"Aber wie lange soll das denn noch dauern? Wir hätten hier doch schon längst wieder rauskommen müssen, auf der anderen Seite des Waldes. Der Nordteil der Brache ist doch gar nicht so breit." Quin fährt sich mit seinen schmutzigen Fingern über die gerunzelte Stirn.
Aber die Brache ist nun wirklich kein kleines Stück Wald. An manchen Stellen ist der Urwald dämonisch verseucht und nach dem, was sie bislang gesehen haben, zweifellos undurchdringlich und kaum zu bewältigen. Es war Praialas Idee gewesen, sich einfach direkt in östlicher Richtung hindurchzuarbeiten, da hier am Nordende der Brache der Wald am schmalsten ist. Das wären ihrer Einschätzung nach nicht mehr als fünf Meilen. Aber Praiala fragt sich, ob sie nicht längst von der ursprünglichen Route abgekommen sind, die sie eingeschlagen hatten, als sie von dem alten Friedhof nach Osten davongingen. Außerdem hatten sie immer wieder Hindernissen oder dem undurchdringlichen Gestrüpp ausweichen müssen, waren zu verschiedenen Zeitpunkten mal nach Norden, mal nach Süden oder Südosten und auch Südwesten gegangen. Davor waren sie die meiste Zeit nach Südosten gelaufen, auch mal nach Nordosten, so hatte es der Südweiser angezeigt, anstatt direkt nach Osten zu gehen, wo Praiala das Ende des Waldes vermutet, dort wo sich die Reichsstraße nach Almada befinden muss. Das war der Plan gewesen. Aber nun waren sie fast eine ganze Nacht marschiert und hatten in ihrem schlechten Zustand in der undurchdringlichen Wildnis vermutlich nicht mehr als vier Meilen zurückgelegt.
Praiala hat sie seit einer guten Stunde noch weiter nach Nordosten dirigiert, damit sie den schmalsten Teil des Waldes sicher erreichen. Was alles prima wäre, wenn sie sich tatsächlich da befinden würden, wo sie sie vermutet. Aber der helle Streifen am Horizont befindet sich nicht in jener Richtung die laut dem Südweiser Osten ist. Was wenn der Südweiser in diesem verfluchten Wald nicht richtig funktionieren würde, und sie stattdessen nach Süden und somit ins Herz des Waldes marschieren würden, dann lägen nun fünfzehn Meilen dämonisch verseuchtes Terrain vor ihnen und ein Wald, der so alt und dunkel ist, dass das Sonnenlicht kaum bis zum Erdboden vordringt. Wenn sie noch weiter nach Süden gehen würden, würden sie in Regionen vordringen in denen das Sphärengefüge so brüchtig ist, dass sich das Diesseits mit den Finstersphären verbindet. Dann könnten sie ungewollt direkt in den Niederhöllen landen ... Praiala spürt, wie ihr übel und schwindelig wird.
"Ich frage mich, was ist, wenn wir dieses verdammte Loch da überqueren, und dann kommt auf der anderen Seite gleich wieder eins. Was dann?"
Darüber hat Praiala noch gar nicht nachgedacht, aber Quin hat nicht Unrecht, das wäre durchaus eine Möglichkeit. Bestimmte Strukturen wiederholen sich oftmals in einer Landschaft, nur manchmal sind es einzigartige Anomalien. In der Dämonenbrache, so hatte sie gelesen, gibt es viele verschiedene Sumpfgebiete, auch auf beiden Seiten des inneren Waldbandes. Der Wald wirkt wie ein Trichter, wie eine Falle. Wer dumm genug ist und versucht, eine Abkürzung zu nehmen, weil er hofft auf diese Weise die Feuchtgebiete zu umgehen, geht in die Irre. Der Gedanke daran nimmt ihr ihre letzten Kräfte. Sie stellt sich ihre Lage aus der Vogelperspektive vor und sieht sich vor einer Schlucht, hinter der eine ganze Reihe ähnlicher Vertiefungen folgen, parallel zueinander und viele Meilen lang. Das würde ihr Ende bedeuten.